Anomalie - Zyklus Thorben Perth

Mittwoch, 11. Februar 2015

Auge um Auge


Vielen Autisten kann man es sprichwörtlich an ihrem Verhalten ansehen, dass sie anders sind. Oft wird der Blickkontakt zu anderen gemieden.

Aus meiner Sicht ist dies ein Schutzmechanismus. Denn die Augen sind das Tor zur Seele. Das Leben schnürt einem Jeden einen Rucksack aus Freude, Traurigkeit, Wut, Ohnmächtigkeit, Gleichgültigkeit, Enttäuschung, … Das liesse sich endlos weiterführen.

Ein Augenkontakt öffnet das Tor zur Gefühlswelt des Gegenübers - jahrelang angestaute Spuren an Eindrücken. Man stelle sich vor, welche Flut an Gefühlen auf einem eindringt, wenn man einen Menschen nicht kennt und wenn man diese Gefühle nicht sortieren kann. Gefühle sind für Autisten schon schwierig genug. Es ist ein Buch mit sieben Siegeln. Ein Augenkontakt fühlt sich an wie ein Dammbruch und der schmerzt in der Seele.

Auch wenn ich das Beobachten von Leuten und ihrer Verhaltensweisen liebe, so meide ich dennoch den Blickkontakt. Ich will nicht von jedem meiner Gegenüber die ganze Gefühlswelt aufgetischt bekommen, ohne dass ich oder das Gegenüber das möchte. Noch schlimmer, wenn die Gespräche mit diesen Leuten und das Gefühlte aus dem Augenkontakt diametral auseinandergehen. Das verwirrt nur. Wem soll man denn nun Glauben: den Augen oder den Lippenbekundungen?

Zum Glück habe ich bis heute gelernt, damit umzugehen – den Augenkontakt zu suchen, aber nur flüchtig, meine Schranken hochzuziehen, bevor mich der Schwall aus Gefühlen treffen kann.

Und dennoch, wenn man den Leuten, die man mag, in die Augen blickt, dann geniesst man den Augenkontakt. Denn da ist man mit der Geschichte der Personen vertraut und kann mit den aufgetischten Gefühlen umgehen.

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