Anomalie - Zyklus Thorben Perth

Mittwoch, 7. Januar 2015

Gefühlte Sprache


Bei einigen Asperger-Autisten, mich nicht ausgenommen, fühlen sich Zahlen und Formeln einfach nur gut an. Sie haben so eine logische Regelmässigkeit an sich. Dreht man an einem Ort das Schräubchen, ist das Resultat an einem anderen Ort zielsicher bestimmbar.

Welch ein Graus war für mich die deutsche Sprache in der Primarschule. In den ersten Jahren hasste ich Aufsätze und Geschichten schreiben. Das Ding wollte sich einfach keinen nachvollziehbaren Regeln stellen. Dementsprechend waren auch die Noten im Keller beim freien Schreiben von Aufsätzen.

Die Freude der Sprache entdeckte ich erst in der Realschule. Da stellte ich fest, dass auch das Deutsche Regeln folgt, trotz der schieren Vielfalt an Möglichkeiten, Kombinationen und Ausnahmen. Ja, auch Ausnahmen sind Regeln, wenn auch nur eine Regel für einen einzelnen Fall.

Aufsätze waren von einem Monat auf den anderen meine liebste Tätigkeit. Die Vielfalt der Sprache wurde zu meinem Freund und die Texte ausgefeilter. Mit dem ersten Familiencomputer begann ich meine eigenen Bücher zu schreiben. Da konnte ich endlich experimentieren, umstellen, umschreiben und feilen, bis sich die Sätze gut anfühlten.
Wenn ich heute die Texte von damals lese, schmerzen mich die Sätze. Sie fühlen sich holprig und unreif an (im Ernst, da liegen auch Jahrzehnte dazwischen). Ich habe in den Jahren so viele neue Regeln gelernt, wie die deutsche Sprache noch schöner und runder wird, dass die Ansprüche an die aneinandergereihten Worte viel höher liegen.

Denn heute weiss ich, wenn ich an einem Wort im Satz die Schraube drehe, welche anderen Teile sich anpassen müssen, damit der Lesefluss wieder stimmt. Das geht auch über mehrere Sätze hinweg, bis sie sich zu einem harmonischen Ganzen, einer Geschichte, zusammenfügen.

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